Heike Grüning ~ Gedichte

Gedichte und Bilder

Tag für Tag

Vormittags ist wie Frühling:
Sanfte Erwartung liegt in der Luft,
ein Duft von Möglichkeiten,
die das launische Leben mir verspricht,
ein Hauch von Lust auf mehr,
eine Melodie voller Sehnsucht,
untermalt mit Verheißungen:
Erkenntnis, Erfolg, Ewigkeit
und
Zuneigung!

Mittags beginnt der Sommer:
Einiges entwickelt sich gut
und vieles lockt noch mit bunten Samen
und schönen Vorstellungen vom Ergebnis -
doch die Mühe macht müde.
Ich ruhe und träume und bange und spiegle mich zu lange,
aber es gibt die trügerische Restzeit
für die noch schaffbare Bestzeit
zu Erkenntnis, Erfolg, Ewigkeit
und Zuneigung.

Abends kommt der Herbst:
Manchmal befriedigt die Ernte,
oft nicht ganz.
Den hellgrünen zartrosa Hoffnungsglanz des Morgens
hat der frühe Abend verschluckt.
Misserfolge werden ausgespuckt.
Daraus entsteht ein wärmendes Feuer
gegen depressive Ungeheuer
hinter dem Erwartungshorizont.
Sie tragen Namen wie „Erkenntnis“ oder „Erfolg“.

Nachts im Winter überlebe ich durch Zuneigung
und ein wenig Hoffnung auf
unvorstellbare Ewigkeit.

Heike Grüning

Tag für Tag

Ich Mich Sich

Ein Hohlraum.
Ein Mensch.
Ich stopfe etwas rein
und warte, was passiert.
Falls mir nicht gefällt, was passiert,
explodiert mein Hohlraum.
Ich bin unzufrieden zufrieden.
Ein Mensch.

Erwartung

gegenseitig
eine Seite
meine Seite
deine Seite
keine Seite
Seitenverkehrt?

zwei Seiten einer Medaille:
zuhören
weghören

verkannt und unerkannt
oder
zugewandt und anerkannt

keiner ist kleiner
keiner ist irgendeiner:
du bist ich bin wir sind
nicht taub und blind,
sondern
Teil deiner meiner unserer Hoffnung
Ergänzung und Bereicherung für einander
sich erfüllende Erwartung:

Auf Augenhöhe geschafft!

Wintermorgen

Wunderbarer Wintermorgen!
Alle Sorgen sind verborgen
unter Glitzerfrost und Schnee
und ich seh
überall
friedliche Stille
und fülle
sie
frei
atmend
tief atmend
in meinen Blick:
Wintermorgenlebensglück

Heike Grüning: Feuersalamander

Wintermorgen

Alles

Ich will alles
alles leben alles fühlen alles machen

doch alles ist nichts
nichts ist richtig nichts ist gut genug ist nichts

Ich brenne für alles
doch alles ist nichts

Ich sehe die Zukunft nicht
dicht dicht dicht
vor mir verbirgt sich das Licht

o sole mio

improve refine upgrade
expand extend upgrade
remove convert upgrade
schneller höher weiter verbaut mir die Sicht

Ich will alles
doch ALLES ist NICHTS

Heike Grüning: Feuersalamander

Alles

Zwangsgedanken

Denkend schlaf ich –
schlafend denk ich – glaub ich.
Keine Ruh!

und hin und her
und nimmermehr!
Zornig wälz ich die Gedanken
hinter ihre Daseinsschranken.
Äuglein zu!!!

Doch sie schleichen penetrant
an den Rand
der Daseinsschranken,
fröhlich winkend mit dem Fähnchen:
„Zwangsgedanken ohne Schranken!“
Mhhh…

Ich zähle ewig zahllos Zahlen
und staune über mein Gehirn,
denn während ich noch vorwärts zähle
und schon die Hundert rückwärts wähle,
schleichen sie ganz ungeniert
und separiert
an Zirbeldrüsens Reich vorbei
und sind bald alle wieder frei.
🙁
Neue Runde – neues Glück:
Ich schiebe sie mit Kraft zurück,
bis ich über’n Jordan bin
und wieder zurück und wieder hin
und Charon lacht,
(wenigstens der),
denn mancher
hat
sich
totgedacht.

Ambivalenz

Ambivalenz - Gedichte und Bilder von PALOMA - Titelbild

Illustration zu: Hermann Hesse "Gestutzte Eiche"

Entwicklung

Heike Grüning: Entwicklung

Heike Grüning

Entwicklung

Ach

Ängste kreisen wie die Geier
über allem Tagwerk hin,
keine Blume ohne Schleier,
hinter allem Hintersinn.

Dort die Meise: Voller Leben
trällert sie ihr Frühlingslied;
wird der Katze Futter geben,
ehe sich’s die Brut versieht.

Hier ein warmer Sommermorgen,
der ein sanftes Glück verspricht;
milder wirken alle Sorgen,
bis der Schein zusammenbricht.

Langsam sink ich trostlos nieder
in ein enges, kaltes Tal;
find mich nur als Schatten wieder:
innen hohl und außen kahl.

Heike Grüning: Feuersalamander

Feuersalamander

alternativ

Mein Kummer kümmert sich um sich
und denkt, er hätte Flügel.
Er flattert durch mein Nebenhirn,
Großhirn, Kleinhirn, Matschhirn
und hängt sich auf den Mantelbügel,
damit ich ihn betrachten muss,
beachten muss,
benutzen muss,
wenn’s kalt wird,
wenn’s eng wird,
wenn ich nackt im Regen stehe
und nichts als dicken Kummer sehe.

Ich zieh ihn an und gehe raus,
laufe los,
wanke herum
und heule und jaule
und ärgere mich über mich!

Da treffe ich ihn:
Baum.
Großer Baum am Waldessaum.
Ich lege meine klammen Hände
auf seine groben Rindenwände
und atme.
Atme ein – atme aus.
Und nochmal.
Und nochmal
...
bis in die fernen Lungenspitzen,
wo schwarze Kummerreste sitzen.

Dann hört mein Atmen auf
und sein Atmen ist unser
Kummer-raus-atmen.
Der fremde Rhythmus
nimmt mich auf in seine Rinde.
Ich bin die Kranke, Taube, Blinde,
die mit den Händen sehen lernt.

Danke, Baum!

Heike Grüning

Danke, Baum

Fernweh

Hohe Gipfel,
hohe Wellen,
hoher Mond am Meeresstrand,

fremde Menschen,
fremde Speisen,
fremder Klang im bunten Land,

neue Rhythmen,
neue Formen,
neue Kunst, die tief berührt,

sanfte Gesten,
sanftes Lächeln,
sanftes Wesen, das verführt,

bis man Sehnsucht
nach der Wiese
hinterm Elternhaus
verspürt.

Heike Grüning: Mohnblume

Mohnblume

Glück

Hüpft die Seele durch das Wasser,
tanzt sie jauchzend, dreht sich schnell
und wird glücklich nass und nasser
in dem klaren, frischen Quell.

Durchgesprudelt schwebt sie kichernd
übers weite Ährenfeld.
Kaum das eigne Leben sichernd
saust sie so, wie's ihr gefällt.

Fliegt die Seele –Seele fliegt! –
frei von allen falschen Zwängen,
sinkt sie dann zum Abendlied
ohne Hektik, ohne Drängen.

Und das enge, kalte Tal
wandelt sich zum Lebensraum:
lieben, tanzen, … ganz nach Wahl,
schlafen unterm Lieblingsbaum.

Heike Grüning: Glück

Glück

Gute Stimmung – reduziert auf Sorge

Schwer vom Sommer
beugen sich die Zweige –
dunkles Grün im Septemberblaugrau.
Die Eichenfrüchte ploppen regelmäßig
unregelmäßig
ins wettersatte Gras.

Mauersegler am dämmernden Himmel
entschließen sich vage
für Regen oder nicht.
Morgen Sommer oder nicht?
Morgen Herbst oder nicht?

Ich fühle mich gut, oder nicht?
Der Tag war schön, die Arbeit leicht.
Jetzt geht der verhaltene Abend über
in die lakendurchwühlte Nacht,
denn die Sorge bleibt:
Schneller, höher, weiter –
oder nicht?

Heike Grüning: Bernsteinkreislauf

Bernsteinkreislauf

Manchmal im Keller

Manchmal geh ich den Keller
meiner Seele
ganz hinab.
Such nach Dickem, Starrem, Schwerem
wie in einem alten Grab.

Manchmal muss ich …
Manchmal soll ich …
Manchmal will ich
tiefer graben,
dreh das Dicke, Starre, Schwere,
an dem sich fette Maden laben.

Manchmal zerr ich Totgeglaubtes
hoch ans Licht,
und mir wird kalt:
Nichts ist tot.
Alle Fehler leben weiter
in der Kellerdunkelheit.

Selbst das Größte, Schönste, Beste
kippt mir in den Keller weg
und liegt trostlos in den Ritzen,
als wär’s abgestandner Dreck.

Manchmal muss ich …
Manchmal soll ich …
Manchmal will ich
klüger werden.
Und die Kellernabelschau
schützt
meine Seele
vor’m Verderben.

Heike Grüning

Manchmal im Keller

Naturalismus

Na gucke!
Hoppla!
Ja sowas!
Wow!
Gibt’s denn das!
Schneeglöckchen!

Heike Grüning: Naturalismus

Ausschnitt aus: Rückblick auf sympathische Typen

frühling

Sommerfrühling – Frühlingssommer,
Lindgrün grünt zum Grün.
Töne tönen überschwänglich.
Tausendfaches Blühn!

Schaun wir auf ein kleines Raster
frisch gespross’ner Wiesen,
bestaunt mein tief bewegtes Ich
die kleinen, starken Riesen,

die sich breit und schlank und hoch
und viel und seltsam recken
und zwischen, unter, neben sich
so manch Getier verstecken.

Es summt und surrt und lockt,
es raschelt, huscht und singt.
Morgens stöhn ich lächelnd auf,
weil Frühlingssound mein Hirn durchdringt.

Und abends gibt’s ein Livekonzert
von Amsel, Drossel, Fink und Star.
Ich höre zu und freue mich,
wie gut der Tag trotz allem war.

Heike Grüning

Frühling

Unser Projekt

meinerseits keine Bedenken
deinerseits Hände verschränken
meinerseits strahlendes Glück
deinerseits skeptischer Blick
meinerseits träumen im Überschwange
deinerseits grübeln
lange
lange
lange

meinerseits zappeln und flehen
deinerseits wenden und drehen
meinerseits maulende Myrte
deinerseits klare Distanz

Jetzt: dein Projekt – ganz!

Heike Grüning: Die Argonauten

Die Argonauten

Unwörter

offiziell:
ausländerfrei Besserwessi
Politikverdrossenheit
Sozialabbau Überfremdung
Superwahljahr Multimedia
Diätenanpassung Sparpaket
Rentnerschwemme Reformstau
Wohlstandsmüll
sozialverträgliches Frühableben
Kollateralschaden Schwarzgeldaffäre
national befreite Zone Gotteskrieger
Teuro Ich-AG Humankapital
Tätervolk
Entlassungsproduktivität Herdprämie
notleidende Banken
betriebsratsverseucht alternativlos
Wutbürger Gutmensch Lügenpresse
postfaktisch Volksverräter
alternative Fakten

persönlich:
Pech gehabt
mal sehen
wird schon werden
da musst du durch
vielleicht - hab grad Stress
die da
man sollte
sorry
ja, ja
ist sowieso egal

ich halt mich da raus

Heike Grüning: Bonbonidealismus

Bonbonidealismus

Zivilisation

Das Lied der Amsel
schwebt
sinkt
fällt
in meine
abendliche Seele.
Ich frage mich,
was sie wohl träumt

und stehle mich rein,
um bei
Fernsehunterhaltung
glücklich
abgelenkt

einsam zu sein.

Heike Grüning: Zivilisation

Amselnest

Zwiegespräch

Manchmal bin ich
Hans-Guck-In-Die-Luft
und manchmal bin ich ein Stern.
Manchmal bin ich ein vertrackter Schuft
und manchmal hat man mich gern.

Bin freundlich, klug und leuchtend zart –
bin hässlich, anmaßend und hart.
Bin klein, verzweifelt, ängstlich, dumm –
bin an der falschen Stelle stumm.
Bin auf und ab und gut und schlecht –
bin sehr gerecht und ungerecht.

Stelle nicht nach mir die Zeit!
Schlag nicht auf meine Träume ein!
Geh mit mir durch die Dunkelheit!
Lass uns gemeinsam Brücke sein!

Heike Grüning: Zwiegespräch

Illustration zu Franz Kafka "Die Brücke"

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